Philosophisches Wandern ist philosophische Praxis jenseits der Universität. Die folgenden Textbeispiele sollen diese Idee perspektivisch darstellen. Zudem geben sie ein Beispiel in die Art der Texte, die uns bei einer Wanderung gewöhnlich begleiten.
Die grosse Loslösung kommt ... wie ein Erdstoss; die junge Seele wird mit einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie selbst versteht nicht, was sich begibt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft ...
Als des Reichtums und der Armut Sohne aber befindet sich Eros in solcherlei Umständen. Zuerst ist er immer arm, und bei weitem nicht fein und schön, wie die Meisten glauben, vielmehr rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer umherliegend und unbedeckt schläft er vor den Türen und auf den Straßen im Freien, und ist der Natur seiner Mutter gemäß immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seinem Vater wiederum stellt er dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist, und weder wie ein Unsterblicher geartet, noch wie ein Sterblicher, bald an demselben Tage blühend und gedeihend wenn es ihm gut geht, bald auch hinsterbend, doch auch wieder auflebend nach seines Vaters Natur. Was er sich aber schafft geht ihm immer wieder fort, so daß Eros nie weder arm ist noch reich, und auch zwischen Weisheit und Unverstand immer in der Mitte steht. - Wer also, sprach ich, Diotima, sind denn die philosophierenden, wenn es weder die Weisen sind noch die Unverständigen? - Das muß ja schon, sagte sie, jedem Kinde deutlich sein, daß es die zwischen beiden sind, zu denen auch Eros gehören wird.
Sodann ist der wirklichen Erlangung gründlicher, oder gar tiefer Einsichten, also dem wahren Weisewerden, fast nichts so hinderlich, wie der beständige Zwang, weise zu scheinen, das Auskramen vorgeblicher Erkenntnisse, vor den lernbegierigen Schülern und das Antworten-bereit-haben auf alle ersinnlichen Fragen. Das Schlimmste aber ist, daß einen Mann in solcher Lage, bei jedem Gedanken, der etwa noch in ihm aufsteigt, schon die Sorge beschleicht, wie solcher zu den Absichten hoher Vorgesetzter passen würde: Dies paralysiert sein Denken so sehr, daß schon die Gedanken selbst nicht mehr aufzusteigen wagen. Der Wahrheit ist die Atmosphäre der Freiheit unentbehrlich.
Die Tätigkeit des Denkens ist das Höchste in uns und seine Gegenstände sind die Höchsten unter den erkennbaren Dingen.
Ferner: Die betrachtende Tätigkeit ist die kontinuierlichste, da wir eher kontinuierlich betrachten können als irgendeine andere Handlung vollziehen.
Weiter: Wir glauben, dass dem Glück Lust beigemischt sein muss. Unter den Tätigkeiten, die aus Gutheit hervorgehen, ist aber nach übereinstimmender Auffassung diejenige, in der sich die Weisheit betätigt, die lustvollste. Jedenfalls besteht die Meinung, dass die Liebe zur Weisheit Freuden von wunderbarer Reinheit und Dauerhaftigkeit gewährt.
Weiter: Was wir "Autarkie" (Selbstgenügsamkeit, Selbstständigkeit) genannt haben, wird sich wohl am meisten bei der betrachtenden Tätigkeit finden. Denn die lebensnotwendigen Dinge braucht der Weise ebenso wie der Gerechte. Wenn sie aber mit diesen Dingen hinreichend ausgestattet sind, braucht der Gerechte noch Menschen, denen gegenüber und mit denen zusammen er gerecht handeln kann, und dasselbe gilt auch für den Mäßigen, den Tapferen und alle Übrigen. Der Weise hingegen kann auch dann betrachten, wenn er für sich ist, und je weiser er ist, umso mehr. Vielleicht ist es besser, wenn er mit anderen zusammen tätig ist, aber dennoch ist er der am meisten autarke.
Weiter dürfte gelten, dass allein diese Tätigkeit um ihrer selbst willen geliebt wird. Denn nichts entsteht aus ihr außer dem Betrachten, während wir aus anderen Tätigkeiten mehr oder weniger Gewinn haben.
Weiter nimmt man an, dass das Glück in der Muße besteht. Denn wir sind geschäftig, um Muße zu haben, und führen Krieg, um in Frieden zu leben.
Doch darf man nicht denen folgen, die raten, man solle als Mensch an menschliche Dinge denken und als Sterblicher an sterbliche. Vielmehr müssen wir uns, soweit wir es vermögen, unsterblich machen und alles tun, um in Übereinstimmung mit dem Höchsten in uns zu leben. Denn auch wenn dies klein im Umfang ist, überragt es doch alles umso mehr an Vermögen und Wert.
Was einem Lebewesen eigentümlich ist. das ist jeweils für es das Beste und Lustvollste. Für den Menschen ist dies also das Leben in der Betätigung des Denkens, wenn gerade dieses dem Menschen am wesentlichsten ist. Dieses Leben ist daher auch das glücklichste.
Lies daher immer nur bewährte Autoren. Erlaubst du dir aber einmal eine Abschweifung, so kehre doch bald wieder zu den Bewährten zurück. Halte täglich ein hilfreiches Wort gegen die Armut bereit, gegen den Tod und gegen die übrigen Geißeln der Menschheit. Und – wenn du vieles überflogen hast, nimm dir täglich ein Wort heraus und verarbeite es geistig. Ich tue das auch. Aus dem, was ich lese, greife ich mir einen Spruch heraus. Heute war es folgender – ich fand ihn bei Epikur, denn ich pflege auch ins andere Lager hinüberzugehen, nicht als Überläufer, sondern als Späher: Freudig getragene Armut ist ein sittlicher Wert, sagt er. Tatsächlich besteht keine wirkliche Armut mehr, wenn man die Armut freudig trägt. Denn arm ist nicht, wer zu wenig hat, sondern wer zuviel begehrt.